ESSAY-BRIEF

Essay-Brief Februar 2016

Briefe

Bücher

Team

Kontakt

Home

Aktuell

Der Radikale Yoga -  Teil III.

© Bernd Helge Fritsch

 

Vor Kurzem ist mir ein Vortrag von Jiddu Krishnamurti, einem der großen Weisheitslehrer des 20. Jahrhunderts, in die Hände gefallen. In diesem Vortrag erklärt Krishnamurti, dass nur wenige Menschen „von der tiefen Leidenschaft erfüllt sind das Leben in seiner Gesamtheit zu verstehen, ohne ihre Energien in bruchstückhaften Aktivitäten zu vergeuden. Der Bankmanager kümmert sich wie besessen um seine Bankangelegenheiten, der Künstler und der Wissenschaftler geben sich ganz ihren Anliegen hin, doch ist es offenbar ganz ungewöhnlich schwierig, dass jemand eine dauerhafte, intensive Leidenschaft dafür aufbringt, die Gesamtheit des Lebens zu begreifen.“ (*Jiddu Krishnamurti, Der Flug des Adlers, Fischer Verlag, Kap. 6. „Die Gesamtheit des Lebens“)

Diese Worte Krishnamurtis stimmen überein mit meiner Ansicht, wonach wir eine radikale Hingabe (er nennt es eine „intensive Leidenschaft“) benötigen um die Gesamtheit des Lebens zu begreifen und damit unsere Zweifel, unsere innere Zerrissenheit, unsere Sorgen und Probleme dauerhaft zu beenden.

Zur Erinnerung darf ich vorerst die bereits in den beiden vorangehenden Essay-Briefen besprochenen, sechs von insgesamt zehn „Geboten“ des „Radikalen-Yoga“ aufzählen:

1. Radikale Achtsamkeit & Gedankenkontrolle

2. Radikale Präsenz

3. Radikales Loslassen von jeder Identifikation

4. Radikale Zufriedenheit

5. Radikale Akzeptanz

6. Radikal authentisch leben

 

Wir kommen jetzt zum siebenten „Gebot“ des radikalen Yogaweges:

7. Radikale Bereitschaft zur Veränderung

Alles Leben ist ständig im Fluss. Es ist ein ständiger Kreislauf von Werden und Vergehen. Der unwissende Ego-Mensch liebt das Werden und Bestehen und stemmt sich gegen das Vergehen. Unbewusst behindert er auf diese Weise auch sein eigenes Werden und das macht ihn unglücklich. Er erkennt nicht, dass in jedem äußeren Werden und Bestehen schon das Sterben inbegriffen ist. Er sieht nicht den Sinn, die Schönheit, Liebe und Vollkommenheit in den vergänglichen Erscheinungen der Welt.

Charlotte Beck (1917-2011, Zen-Meisterin, Kalifornien) erklärte dazu:

Wir müssen Leben und Sterben ­– darin liegt Vollkommenheit.

Unser Widerstand gegen Veränderung steht nicht im Einklang mit der Vollkommenheit des Lebens, die in ihrer Vergänglichkeit gegründet ist.

 

Ändere deine Einstellung zum Werden und Vergehen. Liebe beides und gehe über beides hinaus! Erkenne wer du jenseits von Werden und Vergehen bist: Du bist ein unsterbliches individuelles Zentrum von Bewusstheit.

Spirituelles Wachstum

Ein altes Sprichwort sagt:  

„Leben ist Veränderung, Stillstand bedeutet Tod!“

 

Doch um Missverständnisse vorzubeugen: Die Einladung zu radikaler Veränderung bezieht sich nicht auf äußere Aktivitäten. Denn ständig Neues haben und erfahren wollen, da und dort dabei sein „müssen“, im Urlaub immer neue Länder und sogenannte „Sehenswürdigkeiten“ besuchen zu müssen, sich irgend welchen neuen Trends anzupassen, bewirkt nur Zerstreuung und nicht wahres Leben. Diese Art zu konsumieren verursacht nicht Erfüllung sondern nur innere Unruhe, Unzufriedenheit. Es fördert das stete Verlangen nach „mehr“, das Gefühl des Getrieben-Seins und endet stets in einer Art von Enttäuschung.

Ständige Veränderung im Sinne des „siebenten Gebotes“ bedeutet, sich von der Welt mit ihren Eitelkeiten und Streitigkeiten, von Eifersucht, Konsum und Macht-Bedürfnis, von Problemen und Sorgen aller Art innerlich zu befreien.

Was ist Leben?

Fragen wir uns zuerst, was bedeutet eigentlich „Leben“? Worte sind natürlich nicht in der Lage das Leben zu erklären, vielmehr sind Worte nur ein Teilaspekt des Lebens und ein Teil vermag nicht das Ganze zu erfassen. Es wäre daher besser keine Worte zu gebrauchen um das auszudrücken, was ich paradoxer Weise dennoch im Folgenden mitteilen will!

Leben bedeutet tief in das Sein einzutauchen. Es bedeutet das zu erfahren, was wir in unserem Seelengrunde sind und es zum Ausdruck zu bringen. Es bedeutet sich mit dem „reinen Bewusstsein“, aus dem alle Erscheinungen hervorgehen und von welchem sie wieder zerstört werden, zu verbinden. Es bedeutet Eins zu werden mit dem allumfassenden Gott-Sein, welches wir sind.

Um das „Leben“ zu erkennen bedarf es einer umfassenden geistigen Veränderung des „normalen“, seit Jahrtausenden eingelernten, Bewusstseins. Es bedarf einer Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und eingefahrenen Denkmustern. Es bedarf einer Befreiung von der Trennung in „Du“ und „Ich“, von der Trennung in „meine“ Familie und „nicht-meine Familie“, von der Trennung in Rassen, Nationen und Religionen. Es erfordert ein radikales Loslassen von allen Identifikationen.

Erkennen wer ich bin

Um Erfüllung zu leben, muss ich erkennen wer ich bin. Das wiederum erfordert spirituelles Wachstum. Dieses Wachstum, diese Veränderung setzt ein radikales Loslassen von den Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen des Egos voraus. Es bedeutet insbesondere unser Glück, unsere Erfüllung nicht in der äußeren Welt zu suchen.

Um anhaltende Glückseligkeit zu erfahren, ist überhaupt kein „Suchen“ erforderlich. Das Ego sucht nach dem Glück, weil es die Vollkommenheit des gegenwärtigen Augenblicks, die Liebe, Weisheit und Glückseligkeit des Seins nicht wahrnimmt. Sein Suchen bedeutet Unzufriedenheit mit dem Jetzt und damit Ablehnung des Seins wie es ist.

Das Ego erhofft sein Glück in der Zukunft – vielleicht nach hartem Bemühen – erlangen, statt „jetzt“ glücklich zu sein. Wie viele Jahre versäumen und vergeuden die Menschen mit der Hoffnung eines Tages anhaltend glücklich zu sein?

Der Tod des Egos

Die alles entscheidende Veränderung in unserem Leben betrifft die Bereitschaft zu sterben. Doch um wessen Tod geht es dabei? Wie alle großen Weisheitslehrer bekräftigen, wird unser Seelengrund (der Gott in uns) niemals geboren und kann niemals sterben. Unser Körper hingegen, das „Fahrzeug“ mit dem wir uns durchs Leben bewegen, wird hingegen mit absoluter Sicherheit sterben. Wozu also sich mit dem Tod des Körpers beschäftigen? Wozu der Wunsch und aller überflüssige Aufwand das physische Leben über die vom Karma vorgesehene Lebens-Zeit hinaus zu verlängern?

Der Tod, den es gilt bewusst zu vollziehen, betrifft die Auflösung, die Transformation unseres Ego-Bewusstseins. Diesen Tod meinte Angelus Silesius mit den Worten:

Wer nicht stirbt, bevor er stirbt,

der verdirbt, wenn er stirbt!

 

Ständiges Lernen

Radikale Bereitschaft zur Veränderung bedingt die ständige Bereitschaft zu lernen. Statt zu lernen und spirituell zu wachsen sind die meisten Menschen vorwiegend damit beschäftigt, ihre Lebensbedingungen zu verbessern um dadurch glücklicher zu sein. Doch die äußere Welt ist weder dafür geschaffen noch dafür geeignet, dass wir ein Optimum an Lust, Freuden und Glück aus ihr heraus holen. Wie wir alle – früher oder später – erkennen müssen ist jede Freude der Welt vergänglich und vom Leid nicht zu trennen. Die Freuden und Leiden dieser Welt sind nur die beiden Seiten ein und derselben Münze.

Schließlich werden wir erkennen, dass wir die höchste Glückseligkeit ohnedies in unserem Herzen tragen. Wozu also Energie verschwenden um vergeblich hinter äußerem Glück herzujagen? Wenn du tief und anhaltend, ohne Abhängigkeit von Menschen und äußeren Ereignissen glücklich sein willst, so lass dein Ego sterben und geh einwärts zu deinem Herzen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich hier hinzufügen, dass spirituelles Erwachen durchaus mit Genießen von äußeren Freuden im Einklang stehen kann. Probleme verursacht dabei nur unser Ego, welches rasch in die Abhängigkeit von Menschen und Dingen abgleitet, weil es von Denk- und Verhaltens-Mustern getrieben den Genuss „sucht“ und dabei „süchtig“ wird.

Diese „Sucht“ endgültig überwinden wird nur derjenige, der bereit ist sich für den inneren Frieden und die absichtslose Liebe zu öffnen.

Transformation des Bewusstseins

Am spirituellen Weg werden wir nach und nach erkennen, dass die duale Welt ein großes Schauspiel ist, welches primär dazu dient um zu erwachen.

Unser Erdendasein ist „DIE“ Schule zur Transformation unseres Bewusstseins. Während seines Lebens befindet sich der Mensch, je nach dem Stand der Entwicklung seines Bewusstseins, gleichsam in der „Volks-, Mittel- oder Hochschule“. Dabei sorgt unser Schicksal in perfekter Weise dafür, dass wir uns stets in der richtigen „Schulklasse“ befinden.

Bei diesem „Schulungs-Weg“ geht es nicht um Anhäufung von bruchstückhaftem Wissen, welches vielleicht (eher selten) für unseren Beruf von Nutzen ist, sondern um ein umfassendes Verstehen des Lebens, des Liebens und des Sterbens.

Den richtigen Lehrer finden

Wie gesagt, musst du nicht die richtige „Schule“ finden um spirituell zu wachsen und schließlich zu erwachen. Denn jeder Augenblick unseres Lebens ist unser perfekter Lehrer, der uns die Chance gibt das zu lernen worauf es wirklich ankommt: die Verwirklichung unseres Gott-Seins (zu diesem Thema findest du mehr im demnächst folgenden Essaybrief zum „10ten Gebot“).

Wir müssen auf unserem Weg nur achtsam genug sein, um die ständigen Hinweise und Hilfen, die das Universum uns anbietet, wahrzunehmen.

Neben den Ereignissen und Menschen in unserem Umfeld, wird uns das Schicksal die richtigen Bücher und die richtigen Lehrer zum rechten Augenblick zur Verfügung stellen.

Jeder bekommt den spirituellen Lehrer, der seiner Bewusstseinsstufe entspricht

Soweit für jemanden ein spiritueller Lehrer in physischer Gestalt vorgesehen ist, bekommt er durch das Schicksal den Lehrer, der optimal seiner Bewusstseinsstufe entspricht. Ist jemand stark seinem Ego verhaftet und sucht er am spirituellen Weg etwas für sein Ego zu gewinnen (Ansehen, Macht, Heiligkeit usw.) so wird er eher zu einem „Guru“ geführt, der ebenfalls ein starkes Ego hat, der vielleicht finanzielle Interessen verfolgt, Macht anstrebt oder Verehrung durch seine Schüler braucht…

Um selbst ein „Meister“ zu werden, ist es – wie in allen Lebensbereichen - ein großes Geschenk bei einem Meister in die Schule gehen zu dürfen. Doch wähle deinen Meister sorgfältig. Nur ein Meister, der selbst sein Ego transformiert hat, wird dich am Yoga-Weg optimal begleiten.

Die wahren Meister gebärden sich nicht auffällig, sie tragen keine besonderen Gewänder. Sie sind bescheidene, zufriedene Menschen, die sich nicht einbilden wichtig zu sein oder etwas Besonders zu leisten. Sie erfüllen einfach die Aufgaben, die das Leben an sie heranträgt, die Aufgaben zu denen sie berufen sind.

Soweit der Meister anderen Menschen auf ihrem Yoga-Weg beisteht, fühlt er sich nur als Werkzeug des universellen Bewusstseins.

Der Meister bildet sich nicht ein die Welt oder irgendjemanden verbessern zu müssen. Für ihn ist die Welt trotz all ihrer Probleme und Schrecken vollkommen wie sie ist. Er sieht die Wirklichkeit dahinter. Er sieht nicht nur begrenzte Teilaspekte des Lebens, sondern die Gesamtheit des Seins. Das Gute und das Böse sind für ihn vergängliche Manifestationen der allumfassenden Gottheit, die dem Menschen helfen zu erwachen.

Die Welt braucht niemanden, der die Welt verbessert. Wie die Geschichte zeigt, sind alle derartigen Versuche – soweit man zurückblicken kann – gescheitert. Die einzig wahre Verbesserung der „Welt“ erfolgt dadurch, dass jeder für sich sein Gott-Sein, also „ich“ und „du“ das reine Bewusstsein verwirklichen.

Egoismus und spirituelles Streben

Spirituelles Streben ist eine Gradwanderung. Auf der einen Seite drohen Nachlässigkeit, mangelnde Ernsthaftigkeit, Rückfall in alte Ego-Verhaltensmuster. Auf der andern Seite lockt das Ego mit der Aussicht durch den Yoga-Weg Vorteile für sich zu gewinnen und besser als andere Menschen zu sein. Daraus resultiert oft heftiges Ego- Wollen und Bemühen. Hüte dich vor dieser Falle am spirituellen Weg. Werde zu Nicht-Ich, welches nichts will und so alles erreicht!

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…

Ich wünsche dir jedenfalls viel Hingabe, Freude und Leichtigkeit bei deinen kommenden Veränderungen.

Genieße den Zauber der mit jedem Neubeginn verbunden ist!

„...und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ diese wundersamen Worte finden sich in einem der tiefsten und wohl auch bekanntesten Gedichte von Hermann Hesse. Diese Worte hat Hesse, das sei nebenbei erwähnt, von einem anderen Meister, nämlich von Meister Eckehart übernommen.

Besser als mit diesem Gedicht kann ich nicht zum Ausdruck bringen, was mit der „radikalen Bereitschaft zur Veränderung“ gemeint ist.

 

Eine Fortsetzung der Erläuterung der „Zehn Gebote des radikalen Yoga“ folgt mit dem nächsten Essay-Brief.

Mit herzlichem Gruß

Bernd